„Heil ist dem Haus beschieden!“
MeisterWerk-Kurs zum Abu Hassan in der Hochschule für Musik Detmold, 15.-21. Oktober 2001
Meinem persönlichen Künstlergefühle ist diese heitere, in vollster, üppiger Jugendkraft lodernde, jungfräulich zart empfindende Schöpfung besonders lieb. Ich glaube in ihr das zu erblicken, was jedem Menschen seine frohen Jünglingsjahre sind, deren Blütezeit er nie wieder so erringen kann, und wo beim Vertilgen der Mängel auch unwiederbringlich Reize fliehen.
Derart begeistert äusserte sich Carl Maria von Weber 1818 über Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail, und eine ähnliche Bedeutung, wie sie Weber dem Werk Mozarts beimisst, kommt wohl auch seinem eigenen Abu Hassan zu. Die beiden Werke verbindet nicht nur das orientalische Ambiente; in keiner seiner Opern ist Weber der Musiksprache Mozarts wohl näher als in dem 1810/11 entstandenen Einakter. In seinem Aufsatz innerhalb der dramatisch-musikalischen Notizen versucht Weber eine Bewertung der frühen Opern des Klassikers: Während in den frühen Bühnenwerken das gesammelte wie das gottgeschenkte Material erst die Zeit verarbeiten und abgären mußte, sieht Weber den Schritt zur Meisterschaft zwischen Idomeneo und Entführung. Im Idomeneo ist fast aller Farbenstoff der späteren Mozartschen Werke wie auf der Palette dargelegt und das Gewicht des Wissens beginnt mit dem Genius Freiheitslust zu kämpfen. In der Entführung schließlich trägt die heitere Jugendfrische den Sieg davon, sie ist die erste Stufe der künstlerischen Vollendung Mozarts. Die Parallelen in Webers eigenem Schaffen drängen sich auf: nach der Suche und „Gärung“ der ersten Studienwerke erreicht Weber gerade zwischen der Silvana mit ihrer fast übervollen musikalischen Palette und dem unbeschwerten Abu Hassan jene Stufe der ersten Meisterschaft.
Sich davon zu überzeugen, war der Kurs an der Detmolder Hochschule für Musik im Herbst 2001 bestens geeignet. Grund für diese Veranstaltung und das erneute Treffen der Weber-Gesellschaft im Lippischen war ein Abschied: Prof. Dr. Gerhard Allroggen wurde am 21. Oktober aus dem aktiven Hochschuldienst verabschiedet. Aber ganz nach Hassans Motto „Thränen sollst Du nicht vergießen“ war es für die Weberianer nur ein halber Abschied, denn Gerhard Allroggen bleibt weiterhin Herausgeber der Weber-Gesamtausgabe. Zu seinen nächsten Projekten gehört – gemeinsam mit Joachim Veit – die Edition des Abu Hassan innerhalb der Gesamtausgabe, und so lag es nahe, quasi zum Abschied aus dem Lehrbetrieb und als vergnügliche Einstimmung auf den neuen Lebensabschnitt das Werk einzustudieren und aufzuführen.
Der Entschluss war schnell gefasst, aber „Was dann zu machen“? Joachim Veit und Knut Holtsträter hatten das bisweilen recht „martervolle Los“, nicht nur ein vorläufiges Aufführungsmaterial zu erstellen, ihnen oblag auch die organisatorische Vorbereitung, und dazu gehört immer wieder die Beschaffung von „Geld, Geld, Geld!“ Da weder ein Wechsler noch ein Kalif „diese große Menge“ bereitstellte, und der Scheintod im Gegensatz zu den Zeiten Fatimens und Hassans heute eher Kosten verursacht als finanzielle Einkünfte zu erbringen, mussten, statt vergeblich „in allen Ecken“ zu suchen, andere Mittel und Wege gefunden werden. Neben den Veranstaltern, der Detmolder Musikhochschule und dem Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn, fanden sich schließlich eine ganze Reihe von Unterstützern: die Stiftung Kunst und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen, die Sparkasse Detmold, das Detmolder Kammerorchester, zwei private Sponsoren und natürlich auch die Internationale Weber-Gesellschaft.
Den Rahmen für die Einstudierung bildete ein MeisterWerk-Kurs der Detmolder Hochschule. Die Form dieser Kurse, die auf eine Initiative des Detmolder Klarinetten-Professors Hans-Dietrich Klaus zurückgehen, hat sich seit einigen Jahren bewährt, ebenso wie die Zusammenarbeit mit der Detmolder Arbeitsstelle der Weber-Gesamtausgabe. Unzufrieden mit der herkömmlichen Form der Meisterkurse, die oft genug eher der Vervollkommnung artistisch-technischer Fertigkeiten als der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der musikalischen Literatur dienen, wurde hier ein Modell entwickelt, das das Werk ins Zentrum der Betrachtungen stellt. Musikhistoriker und -theoretiker „assistieren“ dabei den Instrumental- bzw. Gesangslehrern, geben den Musikern einen Einblick in Entstehung, editorische Probleme und formalen Bau der Musik, um dann mit ihnen an einer adäquaten künstlerischen Umsetzung zu arbeiten. In den zurückliegenden Semestern standen insbesondere Kammermusikwerke im Blickfeld, darunter Webers Klarinetten-Quintett, sein Flöten-Trio sowie das Grand Duo concertant, und dabei hatte sich herausgestellt, dass nicht nur die jungen Musiker von dieser Art der Zusammenarbeit profitieren; auch für die Mitarbeiter der Weber-Gesamtausgabe waren diese Kurse äußerst ergiebig. Als Editor ist man immer in Gefahr, seine Entscheidungen vom „grünen Tisch“ her zu fällen; die MeisterWerk-Kurse erwiesen sich als wunderbares Regulativ, die eine oder andere Position auf ihre Praxistauglichkeit hin zu überprüfen bzw. offene Fragen zur Diskussion zu stellen, denn gerade die Offenheit und Unvoreingenommenheit der Studenten, auch auf den ersten Blick ungewöhnliche Lösungen oder Sichtweisen auszuprobieren, schafft eine äußerst fruchtbare Werkstatt-Atmosphäre.
Diese positiven Erfahrungen sollten nun auf ein größer besetztes, in der Vorbereitung weit aufwendigeres Werk übertragen werden – die Wahl des Abu Hassan drängte sich dabei förmlich auf, denn als Einakter ist die Oper gerade noch so überschaubar, sie innerhalb einer Woche bis zur Aufführungs-Reife vorzubereiten. Neben dem Dirigenten Joachim Harder, der das Detmolder Kammerorchester leitete, und dem bereits erwähnten Hans-Dietrich Klaus standen für die jungen Gesangs-Studenten in einem wahrhaft interdisziplinären Team teils namhafte Dozenten bereit: Thomas Quasthoff (sängerische Betreuung), Ulrich Holle (Dialog-Einstudierung), Hervé Laclau (Musiktheorie/Analyse), Bodo Plachta (germanistische Fragen) sowie von seiten der Musikwissenschaft Gerhard Allroggen, Irmlind Capelle und Joachim Veit.
Für die Mitglieder der Weber-Gesellschaft eröffnete der Kurs die einmalige Gelegenheit, einen Blick „hinter die Kulissen“ zu werfen, das vielgestaltige Vorfeld einer Opern-Aufführung, wenn auch nur einer konzertanten, kennenzulernen, und das in einer ebenso konzentrierten wie positiven, oft auch heiteren Atmosphäre: von der musikalischen Einstudierung mit drei fabelhaften Korrepetitoren – Christoph Altstaedt (gleichzeitig Choreinstudierung), David Marlow und Christian Tegel – über die Arbeit am Dialog und die Orchesterproben bis hin zur Generalprobe und schließlich zur Premiere. Obgleich alle Gesangs-Partien doppelt besetzt waren, führte das gedrängte Kurs-Programm die Gesangs-Studenten nicht selten an die Grenzen ihrer physischen Leistungsfähigkeit, aber diese Feuerprobe bestanden sie glänzend. Es fiel schwer, unter den engagierten jungen Kursteilnehmern – Christina Schültke und Katrin Burghardt (Fatime), Dong-Seok Im und Seung-Koo Lim (Abu Hassan) sowie Meik Schwalm und Florian Ekkehard Plock (Omar) die Premieren-Besetzung auszuwählen; verdient hatten es eigentlich alle.
Neben der Arbeit an der Oper bereicherten weitere Beiträge diese Detmolder „Weber-Woche“, darunter drei Vorträge. Nach einem Überblick über das Opernschaffen Webers (Joachim Veit) versuchte Bodo Plachta eine literaturgeschichtliche Einordnung des Hassan-Librettos, das trotz des orientalischen Handlungsorts nicht in der Tradition der „Türkenoper“ steht. Joachim Veits Ausführungen zur (Be-)Deutung von Webers Abu Hassan wandten sich insbesondere der Ambivalenz zwischen Märchenspiel und Realitätsbezug in der Entstehungsgeschichte des amüsanten Einakters zu. Die äußerst gelungenen Resultate vorhergehender Gemeinschaftsprojekte der Musikhochschule und der Weber-Gesamtausgabe stellten Detmolder Studenten in einem Konzert zu „Aspekten des Weberschen Instrumentalschaffens“ am 20. Oktober im Brahms-Saal der Hochschule vor: Im ersten Teil des Programms erklangen Variationszyklen Webers gemeinsam mit ihren thematischen Vorlagen: Arien aus Voglers Samori und Méhuls Joseph, die Weber in seinen Werken für Klavier solo (JV 141, op. 28) bzw. Klavier mit ad-libitum-Begleitung zweier Streichinstrumente (JV 43, op. 6) aufgriff. Neben der reizenden Sängerin Stefanie Hanf riss besonders die Pianistin Inga Kazantseva mit ihrer ebenso brillanten wie stilistisch ausgereiften Interpretation das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Das im zweiten Teil vorgestellte Grand Duo concertant (JV 204, op. 48) mit der fabelhaften Yuka Takashi (Klarinette), unterstützt von Christian Petersen (Klavier), verdeutlichte den Erfolg des zurückliegenden MeisterWerk-Kurses.
Doch zurück zum Abu Hassan. Im Zentrum des Interesses standen während der Proben natürlich die musikalischen „Neuentdeckungen“. Im Rahmen der Vorarbeiten zur Edition hatten die Mitarbeiter der Gesamtausgabe unbekannte Fassungen zweier Nummern (einer Arie und eines Duetts) zum Abu Hassan ans Licht gebracht. Diese Vor- bzw. Alternativ-Fassungen waren nicht nur erstmals seit ihrer Entstehung (Gotha 1812) wieder zu hören, der Kurs bot durch die Gegenüberstellung der jeweils zwei überlieferten Fassungen die Möglichkeit, über den Anlass ihrer Entstehung und ihre werkhistorische Stellung nachzudenken – auch in diesem Bereich konnte der MeisterWerk-Kurs die Arbeit an der Ausgabe befruchten.
Gekrönt wurde die ereignisreiche Woche durch die Premiere am 21. Oktober in der Neuen Aula der Musikhochschule. Auch wenn die meisten Kurs-Besucher, die die Proben von Beginn an verfolgt hatten, inzwischen fast alle Nummern im Geiste mitsingen konnten, stellte sich doch keinerlei Müdigkeit oder gar Überdruss ein; im Gegenteil: Jedem, der die Vorbereitungen begleitet hatte, ist dieses Kabinettstück Webers wohl besonders ans Herz gewachsen. Aber auch wer nur Gelegenheit zum Besuch der konzertanten Aufführung hatte, kam auf seine Kosten. Derart überwältigend war die Spielfreude, so ansteckend der Elan und Überschwang der Kurs-Absolventen, dass die Begeisterung der Musiker auch auf das Publikum übersprang. Das Modell MeisterWerk-Kurs hat sich als ein Forum, das Musikpraktikern und Musikhistorikern/Editoren die Möglichkeit eines intensiven, ergebnisreichen Austausches eröffnet, auch in der größeren Form bewährt, dank der intensiven Vorbereitung, des mustergültigen Zusammenwirkens aller Dozenten und nicht zuletzt der Leistungs- und Begeisterungsfähigkeit der Studenten. Einer Musikhochschule mit solchen Bedingungen kann man nur gratulieren und mit dem Schlusschor des Abu Hassan bestätigen: „Heil ist dem Haus beschieden“!
Frank Ziegler