Ei Gude, Mainhattan!
Das Mitgliedertreffen der Weber-Gesellschaft in Frankfurt am Main vom 31. Oktober bis 2. November 2024
Ein Besuch der Gesellschaft in der Mainmetropole war längst überfällig, spielt sie doch keine geringe Rolle in Carl Maria von Webers Leben. Mehrfach hielt sich der Komponist in der Stadt auf und außerdem wurde seine fünfte Oper Silvana hier uraufgeführt. Dieses Jahr nun ergab sich für Marina Grützmacher geb. Freiin von Weber, die dort ansässige Urururenkelin Webers und Schwester des Freiherrn Christian von Weber, die Gelegenheit, die Mitglieder in ihrer Wahlheimat zu begrüßen. Die Planung des Treffens begann weit im Voraus, der Vorstand hatte dabei nicht viel zu tun: für die fantastische Organisation und die gelungene Durchführung des Treffens möchten wir Frau Grützmacher, ihrer Familie, deren jüngere Generation dieses Mal auch anwesend war, und allen weiteren helfenden Händen von Herzen danken!!!
Den Auftakt der Zusammenkunft bildete (ungewöhnlicherweise bereits) Donnerstagnachmittag um 15 Uhr eine Stadtführung durch die „Neue“ Altstadt. Treffpunkt der Gruppe war auf dem Römerberg, dem Rathausplatz mit Justitia-Brunnen und vor dem mit seiner Treppengiebelfassade markanten, aus dem 15. Jh. stammenden Rathaus Frankfurts, dem Platz seinen Namen gebenden Römer. Auf dem Römerberg fanden früher Messen, Turniere und Feste statt, heute schmückt ihn in der Adventzeit der Weihnachtsmarkt. Die Innenstadt von Frankfurt am Main, inzwischen Deutschlands fünftgrößte Stadt, berühmt durch seine markante Skyline mit einigen der höchsten Wolkenkratzer Europas, daher ironisch auch „Mainhattan“ genannt, bedeutendes Industrie-, Dienstleistungs- und Messezentrum und Sitz zahlreicher Banken und Finanzinstitute, wurde am Ende des 2. Weltkrieges zu großen Teilen zerstört. Die rund 1250 größtenteils aus dem Mittelalter und der Renaissance stammenden Fachwerkhäuser fielen dem Bombenangriff am 22. März 1944 zum Opfer. Bei der den Rathausplatz östlich säumenden schmucken Häuserzeile mit dem Großen und Kleinen Engel handelt es sich daher um Wiederaufbauten bzw. Neubauten ab der 80er Jahre. Weiter führte unser Weg ein Stück durch die Limpurger Gasse, durch den Innenhof des Rathauses zum Paulsplatz mit der Paulskirche, Tagungsort der deutschen Nationalversammlung von 1848, von dort wieder zurück über Römerberg, über den Alten Markt am Frankfurter Kunstverein sowie Hühnermarkt vorbei, bis zum Kaiserdom St. Bartholomäus, der zwar Wahl- und Krönungskirche der deutsch-römischen Kaiser, aber nie Kathedrale und somit Sitz der katholischen Bischöfe war. Das gesamte Altstadt-Areal zwischen Römerberg und Domplatz ist im Zuge des 2018 abgeschlossenen städtebaulichen Großvorhabens namens Dom-Römer-Projekt aufwendig rekonstruiert worden. Unterhaltsam, nicht nur geist-, sondern auch faktenreich gab uns der Architekt und Historiker Björn Wissenbach in hessischer Mundart auf dem gut einstündigen Rundgang interessante Einblicke in die Stadtgeschichte.
Der weitere Nachmittag konnte individuell verbracht werden, wobei sich einzelne Grüppchen zum Kaffeekränzchen zusammenfanden, z.B. im Café im Haus zur Goldenen Waage, einem der wiederhergestellten mittelalterlichen Fachwerkhäuser mit Renaissance-Fassade. Am Abend trafen sich die Mitglieder dann noch im Paulaner am Dom zum gemütlichen Beisammensein mit traditioneller bayrischer! Küche.
Wer bis dahin Frau Grützmachers Wirkungsort noch nicht kannte, konnte ihn an dem folgenden Freitag kennen lernen, denn alle Veranstaltungen dieses Tages fanden in ihrer renommierten Galerie KunstRaum Bernusstraße statt, die sich auf über 120 qm Ausstellungsfläche Malerei, Grafik, Fotografie, Bildhauerarbeiten, Objekten und Videoinstallationen zeitgenössischer Künstler*innen in wechselnden Werkausstellungen widmet und auch Vorträge und weitere Veranstaltungen zu den Ausstellungsthemen anbietet. In diesem stilvollen künstlerischen Ambiente war die Abfolge der Programmpunkte für das Mitgliedertreffen wohlüberlegt: nach der Pflicht (der alljährlich abzuhaltenden Mitglieder-Versammlung, die im Untergeschoss der Galerie stattfand) folgte die Kür. Zum Mittagsimbiss waren alle Anwesenden in die geschmack- und kunstvoll eingerichteten privaten Räumlichkeiten der Familie Grützmacher, die sich im selben Gebäude wie die Galerie befinden, eingeladen und wurden mit hausgemachter Kartoffelsuppe und angerichteten kalten Speisen liebevoll bewirtet.
Um 15 Uhr hielt dann Dr. Ulrike Kienzle, freiberufliche Musikwissenschaftlerin, Autorin und Dozentin in Frankfurt, die in Gesprächskonzerten, u.a. in Veranstaltungen bei der Brentano-Akademie Aschaffenburg auftritt, einen Vortrag mit Bildern und Klangbeispielen über „Carl Maria von Weber in Frankfurt und die Uraufführung der Jugendoper Silvana“. Der Vortrag beleuchtete Webers Beziehungen zu Frankfurt, wie die Oper, die eigentlich für Stuttgart geplant gewesen war, aufgrund von Webers Verbannung aus Baden-Württemberg über die Beziehungen seines Lehrers Abbé Vogler 1810 auf der Bühne des 1782 eingeweihten, heute jedoch nicht mehr existierenden Nationaltheaters am Roßmarkt uraufgeführt wurde, in der Hauptrolle Caroline Brandt, seine spätere Frau. Kienzle bezeichnete die Silvana als „Vorahnung des Freischütz“, die auch in der Tradition des Singspiels steht, sich deutlich von ihrer Vorläuferin, Webers Jugendwerk Das Waldmädchen, abhebt und durch ihre Tanzeinlagen Bezüge zu dem gleichnamigen Ballett von Paul Wranitzky (1796) aufweist. Die durch Franz Danzi initiierte und auf ein Libretto von Franz Carl Hiemer komponierte Oper versinnbildlicht ebenso wie der Freischütz die romantische Idee des Waldes und projiziert den Wald zum geheimnisvollen Sehnsuchtsraum. Das Waldmädchen Silvana (hergeleitet von mittellateinisch „silvani“, wilden Waldmenschen, die sich von der Zivilisation zurückgezogen haben) steht dabei im Gegensatz zum höfischen Leben, das vom Grafen Rudolf und den anderen Mitwirkenden verkörpert wird. Anhand einzelner markanter Hörbeispiele erläuterte Frau Kienzle, wie die romantische Utopie einer „Musik als Klangrede“ in der Komposition umgesetzt wird. Im weiteren Verlauf ihres Vortrages rekonstruierte sie die näheren Umstände der Uraufführung der Oper am 16. September 1810, die unglücklich mit einem damals aufsehenerregenden gesellschaftlichen Ereignis, nämlich der Ballonfahrt der Mad. Blanchard, zusammenfiel. Den Abschluss bildete die hübsche, aber frei erfundene Anekdote um die Entstehung von Webers „Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du“, welches einige Tage zuvor, ebenfalls in Frankfurt, entstanden ist, nach der Weber, um das unruhige Kind Mad. Blanchards zu beruhigen, das Wiegenlied ersonnen haben soll.
Nach dem Vortrag bot sich in einer weiteren längeren Pause allen Anwesenden erneut Gelegenheit zum ausgiebigen Gespräch miteinander bei Kaffee und köstlichem Gebäck. Dabei konnte man ausgewählte, eigens (nochmals) für das Mitgliedertreffen in der Galerie ausgestellte, Grafik sowie die Bronzebüste zu Carl Maria von Weber von Claus Tittmann (*1941) näher betrachten, die der Künstler anlässlich des Freischütz-Jubiläumsjahres 2021 geschaffen hat.
Den Höhepunkt des Tages bildete das um 18 Uhr beginnende Gesprächskonzert „Zauber der Glasharmonika“ mit dem Virtuosen und Forscher Sascha Reckert, der, unterstützt durch seinen Sohn Sebastian (ebenfalls an der Glasharmonika) sowie die Altistin Katja Boost und Maria Pia Vetro am Klavier, Originalkompositionen und Bearbeitungen für das Instrument zu Gehör brachte. Zwischendurch erläuterte er kundig und unterhaltsam allerlei Wissenswertes zu dem von Benjamin Franklin 1761 entwickelten Instrument, bei dem rotierende Glasschalen durch Reibung mit befeuchteten Fingern zum Klingen gebracht werden und das aufgrund des Bleigehalts des Glases und seines betörenden Klanges früher als gesundheitsschädigend und geisttrübend galt. Reckert Vater und Sohn spielen allerdings moderne Instrumente aus eigener Manufaktur mit vertikal angeordneten Glasröhren, da diese nicht nur einfacher repariert und verschieden gestimmt werden können, sondern auch akustisch wesentlich raumfüllender sind als die noch erhaltenen Originalinstrumente. Beide sind Mitglieder des Ensembles sinfonia di vetro, dem weltweit einzigen Glasinstrumentenensemble, das sämtliche Glasinstrumentenpartien der Opern-, Orchester- und Kammermusikliteratur interpretiert, z.B. in der Frau ohne Schatten von Richard Strauss oder in Donizettis Oper Lucia di Lammermoor. Auf dem Programm standen neben Mozarts bekanntem Adagio in C (KV 356) u.a. ein kurzes Melodram für Sprechstimme und Glasharmonika aus der Musik zu Friedrich Dunckers Drama Leonore Prohaska von Ludwig van Beethoven und drei der bewegenden Kindertotenlieder von Gustav Mahler. Webers ursprünglich für Harmonichord komponiertes Adagio und Rondo WeV N.12 (das der Komponist auch für die Glasharmonika geeignet hielt) rundete den Reigen der für dieses „Engelsstimmen“ gleichende Instrument komponierten Werke vollkommen ab. Die Zugabe mit einem jüdischen Wiegala (Wiegenlied) von Paolo Marzocchi (*1971) auf einen Text von Ilse Weber veranschaulichte, dass der faszinierende ätherische Klang der Glasharmonika tatsächlich zeitlos ist.
Der Abend wurde mit einem weiteren geselligen Beisammensein im italienischen Restaurant Mezzanotte abgeschlossen.
Am Samstagvormittag trafen sich die Mitglieder zum letzten Programmpunkt des Treffens: einer Führung unter der Leitung von Ulrike Kienzle im 2021 eröffneten Deutschen Romantik-Museum. Der nach Plänen von Christoph Mäckler umgesetzte Museumsbau beeindruckt schon allein durch seine durchdachte Architektur: nach Eintritt ins Gebäude wird der Blick durch eine große Glasscheibe in einen herrlichen, wildromantisch angelegten Garten gelenkt, eine Wand des Foyers bildet die verputzte Mauer mit angedeutetem Fenster des gleich angrenzenden Goethe-Hauses und die Museumskasse empfängt den Eintretenden mit einem bis unter die Decke reichenden Bücherregal. Selbst der sich über die verschiedenen Stockwerke farblich verändernde Fußboden aus versetzten Klinkersteinen, die aus Trümmern des alten Frankfurts hergestellt wurden, und der die „Himmelsleiter“ symbolisierende Treppenaufgang gehören zum Konzept. Auf drei Stockwerken eröffnet sich den Besucher*innen ein chronologisch geordnetes, breites Spektrum romantischen Denkens: Manuskripte, Grafik, Gemälde und Gebrauchsgegenstände werden in 35 Stationen „in multimedialer Umsetzung von Ideen, Werken und Personenkonstellationen“ präsentiert und vermitteln spielerisch das ästhetische Programm dieser wichtigen Epoche der Kulturgeschichte. Die in modernen Sekretärnachbauten aufbewahrten Originalexponate speisen sich aus der zugrundeliegenden Sammlung des Freien Deutschen Hochstifts. Ausgestellt sind Handschriften und Drucke von Clemens und Bettine Brentano, Kleist, Novalis, den Brüdern Schlegel, Eichendorff, Rahel und Karl August Varnhagen von Ense, Tieck und vielen anderen sowie Gemälde u.a. von Caspar David Friedrich, Johann Christian Clausen Dahl und Carl Gustav Carus. Auf der oberen Etage stellte uns Ulrike Kienzle im Besonderen noch die von ihr kuratierten Musikstationen vor: dort werden Robert Schumanns eigenhändige Kompositionsentwürfe zu Szenen aus Goethes Faust, die lange als verschollen galten und extra für das Museum erworben werden konnten, interaktiv aufbereitet und im „Winterreise-Kabinett“ sind einzelne live-Konzert-Ausschnitte aus Franz Schuberts berühmtem Liederzyklus modernen Filmsequenzen gegenübergestellt. Die Gemäldesammlung des Hochstifts im 1. Stock konzentriert sich auf den spezifischen Bezug zu Johann Wolfgang von Goethe und seiner Zeit, dort lassen sich Werke u.a. von Johann Heinrich Füssli, Angelica Kauffmann und Anton Graff bewundern. Neben der Dauerausstellung bietet das Museum auch noch wechselnde Sonderausstellungen an. Wer wollte und noch Zeit hatte, konnte das Museum dann nach der Führung noch individuell erkunden, denn Stoff beinhaltet es in so reichlicher Fülle, dass man sich eine Woche darin aufhalten könnte. Wiederkommen scheint also garantiert!
Solveig Schreiter