Ein Ausflug zu den „Ruinen des schönen Ehemals“
Die Weber-Gesellschaft zu Gast bei den Weber-Musiktagen 2010 in Pokój
Das 7. Musikfestival zu Ehren Carl Maria von Webers vom 3. bis 6. Juni 2010 in Pokój (Carlsruhe) bildete den festlichen Rahmen für die 20. Mitgliederversammlung unserer Gesellschaft. Weber hatte zwischen Herbst 1806 und Februar 1807 als Gast des Herzogs Eugen I. von Württemberg mehrere Monate in der kleinen oberschlesischen Residenz zugebracht – entspannte Monate, frei von beruflichen Verpflichtungen, die die Kreativität des jungen Musikers beflügelten. Unter Herzog Eugen hatte Carlsruhe ab etwa 1793/94 seine erste kulturelle Blüte erlebt; die Zeitung für die elegante Welt vom 3. März 1801 berichtete:
„Der Herzog ist Kenner der Wissenschaften und Künste, besonders leidenschaftlicher Liebhaber des Theaters. Er hält sich ein eigenes Theater, und schrieb noch unlängst zum Geburtstage seiner Gemahlin ein Stück, das auf jeder Bühne gefallen dürfte. […] Die Herzogin […] ist eine große Musik- und Kunstkennerin.“
Kein Wunder, dass Weber sich in dieser musischen Atmosphäre wohl fühlte. Noch in der Ausgabe Nr. 233 des Berliner Unterhaltungsblatts Der Freimüthige vom 21. November 1808 liest man über den Musenhof:
„Hier befand sich ein wohleingerichtetes Theater und [eine] Kapelle. Ueber letztere führte ein Herr von Rohr, ehemals preußischer Offizier, zuletzt noch mit Würde und Kunstgefühl die Aufsicht. – Auf dem Herzoglichen Liebhabertheater wurden die besten Stücke der deutschen Dichter im Manuskript gegeben.“
Doch die napoleonische Besetzung Preußens und Schlesiens, die auch Weber 1807 aus seinem liebgewonnenen Asyl vertrieb, setzte dem künstlerischen Höhenflug zunächst ein Ende. Im Freimüthigen liest man weiter:
„Gegenwärtig sprechen nur die Ruinen des schönen Ehemals an, und die Harmonie mischt sich nicht mehr in den schönen Gesang der Nachtigallen, die diese Haine bewohnten, Alles ist still und leer, wie das Grab […]!“
Trotzdem schaffte der Ort mehrfach einen Neubeginn, so ab 1822, als der musikliebende Herzog Eugen II. von Württemberg, Webers ehemaliger Schüler, nach dem Tod seines Vaters die Herrschaft übernahm, das Theater reaktivierte und ein Konzerthaus einrichten ließ. 1833 veranstaltete der Kantor Carl Muschner in Carlsruhe das erste oberschlesische Musikfest. Weiteren Aufschwung brachte die Einrichtung des Badebetriebs um die Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders die Modernisierung des Kurbetriebs in den 1920er Jahren. Doch die Kriegsereignisse 1945 löschten das alte Carlsruhe fast gänzlich aus: Die Schlossanlage samt Kavaliershäusern, aber auch viele Privathäuser wurden gebrandschatzt und vernichtet. Die deutsche Bevölkerung wurde aus der Gemeinde, in der einst polnische, deutsche und jüdische Bürger friedlich zusammengelebt hatten, ausgewiesen; vertriebene Polen aus den nun an die UdSSR gefallenen ostpolnischen Gebieten siedelten sich neu an. Deutsche Traditionen wurden bewusst gekappt und verschwiegen.
Die politische Wende östlich des eisernen Vorhangs 1989 beförderte auch hier ein Umdenken: Für viele polnische Schlesier ist die österreichisch/deutsch geprägte Geschichte ihrer Heimat vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert nicht länger ein Tabu, sie wird vielmehr als Bereicherung verstanden. Und auch unter vielen deutschen Vertriebenen setzte ein Umdenkprozess ein: Nicht Rückgewinnung des Verlorenen bestimmt ihr Tun, sondern das Lebendighalten des Gewesenen, frei von Besitzansprüchen. Pokój ist dafür ein gutes Beispiel: Unser Mitglied Manfred Rossa, gebürtiger Oberschlesier, arbeitet seit Jahren unermüdlich an der Aufarbeitung der Geschichte des Ortes; er versteht seine Arbeit als Möglichkeit einer deutsch-polnischen Annäherung. Veröffentlichungen von ihm über Carlsruhe/Pokój wurden ins Polnische übersetzt – ein wichtiger Brückenschlag vom Gestern in die Zukunft. Doch nicht nur Chronist möchte er sein, sondern aus der Kenntnis der Geschichte heraus Neues in Bewegung setzen. Gemeinsam mit dem Oberschlesier Grzegorz Konopka, der an der Universität Essen eine Diplomarbeit über die Entwicklungsmöglichkeiten von Pokój schrieb, initiierte er maßgeblich das seit 2004 jährlich in Pokój stattfindende Weber-Musikfestival mit. Auch von polnischer Seite wird sein beispielhaftes Engagement anerkannt, 2009 sogar durch die Verleihung der Ehrenbürgerschaft gewürdigt.
Manfred Rossa war es auch, der den Besuch der Weber-Gesellschaft an der ehemaligen Wirkungsstätte des Komponisten angeregt hatte. Er verlebendigte die Geschichte der Gemeinde mittels eines Vortrags, aber auch durch mehrere Führungen durch das Orts-Zentrum mit der beeindruckenden barocken Sophienkirche, die der evangelische Pastor Jozef Schlender uns bereitwillig öffnete, durch den Schlosspark, über den evangelischen sowie den jüdischen Friedhof. Das herrliche frühsommerliche Wetter sorgte für eine heitere, entspannte Atmosphäre, auch wenn die wochenlangen Regengüsse zuvor das Passieren des Parks zu einem Hindernisparcour werden ließen und gefräßige Mücken die Geduld manchen Wanderers arg strapazierten. Für besonders Interessierte bot Herr Rossa sogar spätnachmittägliche Sonderführungen durch entlegene Parkteile an, immer wieder darauf hinweisend, welche Möglichkeiten für die zukünftige Entwicklung den „Ruinen des schönen Ehemals“ innewohnen. Man kann nur wünschen, dass möglichst viele seiner Träume sich erfüllen mögen, um den erneuten Aufschwung der Gemeinde zu beflügeln.
Das Interesse der polnischen Bewohner ist jedenfalls groß. In einer Präsentation durch die stellvertretende Bürgermeisterin Joanna Ptaszek wurde darauf hingewiesen, dass es der Gemeinde endlich gelungen sei, den Schlosspark aus der Verwaltung des Forstamtes auszugliedern, um somit nun selbst die Wiederherstellung des teils verwilderten Gartenensembles in Angriff nehmen zu können. Und auch für die Zukunft wird vorgesorgt: Die Schüler der Grundschule von Pokój beschäftigten sich nicht nur mit dem polnischen Jubilar dieses Jahres, Frédéric Chopin, sondern auch mit Weber und präsentierten im evangelischen Gemeindehaus eine sowohl inhaltlich als auch künstlerisch beachtliche Ausstellung.
Aber nicht nur Ruinen, Erinnerungen und Zukunftspläne lockten die Weber-Gesellschaft nach Pokój, sondern auch ein interessantes musikalisches Programm; mit zwei Orchesterkonzerten wohl das ambitionierteste seit Ausrichtung des ersten Festivals im Jahr 2004. Und noch ein Höhepunkt sorgte für besondere Hochstimmung: die Enthüllung eines Weber-Denkmals. Die vom oberschlesischen Bildhauer Adolf Panitz entworfene und von seinem Sohn Jakub Panitz gestaltete Büste des Komponisten wurde am Nachmittag des 3. Juni vor der evangelischen Sophienkirche in Anwesenheit zahlreicher örtlicher Honoratioren sowie von Herzog Ferdinand von Württemberg und Christian Freiherr von Weber unter dem Beifall der in großer Zahl erschienenen Bürger und Gäste enthüllt. Danach wurde in die Kirche zum ersten Konzert geladen: Das Kammerorchester Camerata Janáček aus dem tschechischen Ostrava spielte Werke von Weber und Chopin in Arrangements für Streichorchester (u. a. die Aufforderung zum Tanze). Ganz besonders gelungen war die stimmungsvolle Interpretation von Dvořáks Streicherserenade. Die Bürgermeisterin von Pokój Barbara Zajac nahm das Konzert zum Anlass für eine Ehrung des scheidenden deutschen Generalkonsuls in Oppeln Ludwig Neudorfer, der die langjährigen polnisch-deutschen Aktivitäten in der Gemeinde, wie er in seiner Dankrede betonte, mit großem Respekt und Genuss beobachtet sowie mit Freude gefördert hatte.
Jacek Woleński moderierte, wie in den Jahren zuvor, sowohl das Eröffnungskonzert in der evangelischen als auch das Konzert am nächsten Tag in der katholischen Kirche, nach einer Begrüßung durch den jeweiligen geistlichen „Hausherrn“. Der hervorragende Dolmetscher Leonard Malcharczyk, polnischer Kreistagsabgeordneter und „Protokollchef“ im deutschen Konsulat in Oppeln, sorgte dafür, dass polnische wie deutsche Besucher gleichermaßen angesprochen wurden. Im Zentrum des Freitags-Konzerts, das mit der Oberon-Ouvertüre eröffnet wurde, stand Carl Maria von Webers 1. Sinfonie, die erstmals in neuerer Zeit an ihrem Ursprungsort zu hören war. Joachim Veit von der Weber-Gesamtausgabe hatte in einem öffentlichen Einführungsvortrag auf die Entstehungsumstände des Werks hingewiesen; dem philharmonischen Orchester aus Zabrze (Hindenburg) oblag die musikalische Umsetzung. Dem jungen, in einer Nachbargemeinde geborenen und heute in Pokój lebenden Dirigenten Wojciech Rodek gelang, trotz der akustisch heiklen Bedingungen des Kirchraums, dank seiner mitreißenden Energie und Musizierfreude eine sehr ansprechende Interpretation, die weniger die kammermusikalische Anlage des Werks mit seinen vielen Instrumentalsoli, als vielmehr die große sinfonische Geste, aber auch den geradezu Haydnschen Witz namentlich des III. und IV. Satzes betonte. Orchesterversionen mehrerer Chopinscher Klavier-Kompositionen rundeten die Veranstaltung ab.
Die Gastfreundschaft der Gemeinde war überwältigend; so wurden die Mitglieder der Gesellschaft am ersten Abend im Kulturzentrum zum Büffet eingeladen. Am Samstag stand eine Exkursion nach Opole (Oppeln) auf dem Programm. Die Busfahrt verkürzte der Organisator dieses Ausflugs, der ehemalige Rektor eines zweisprachigen Gymnasiums der Gegend und stellvertretende Vorsitzende des Gemeinderates von Pokój Hubert Kolodziej, der interessante Details aus der Region und aus dem Leben der deutschen Minderheit in Oberschlesien zu berichten wusste. Herr Kolodziej ist seit einem halben Jahr zuständig für den Aufbau von zweisprachigen Schulen im Regierungsbezirk Oppeln. Sein Engagement für die Wiederbelebung des Kulturerbes der Gemeinde verbindet ihn in einer langjährigen Freundschaft mit Manfred Rossa. Durch die Stadt selbst führte uns Korneliusz Pszczynski, ein Kenner der Geschichte und Sehenswürdigkeiten der Stadt. Er präsentierte die Kathedrale, Wirkungsort des noch immer äußerst beliebten ehemaligen Erzbischofs Alfons Nossol, der sich nachhaltig für die Entwicklung seiner Stadt, aber auch für die polnisch-deutsche Aussöhnung einsetzte, die Oderinsel, auf der sich einst die Piastenburg befand, die Franziskanerkirche mit ihrer kunsthistorisch bedeutenden Piasten-Grablege, den Markt mit dem italianisierenden Rathaus sowie die historischen Kloster- und Krankenhausgebäude, die heute die noch junge, maßgeblich durch Erzbischof Nossol initiierte Universität beherbergen. Erst am Nachmittag ging es zurück nach Pokój ins Hotel, das für drei Tage und Abende den Rahmen für den geselligen Austausch über die reichhaltigen neuen Eindrücke bildete. Leider mussten die meisten Mitglieder der Gesellschaft schon am Sonntag früh die Heimreise antreten – sie verpassten die letzten Veranstaltungen, die am Nachmittag des 6. Juni von den Schülern des Gymnasiums in Pokój, von Kindern des Kindergartens von Domaradz (Dammratsch), der Staatlichen Musikschule aus Namysłow (Namslau) und von renommierten polnischen Sängern gestaltet wurden.
Den polnischen Gastgebern und ihrem gelungenen Festival, Manfred Rossa als rührigem Initiator (der im Vorfeld etliche organisatorische Schwierigkeiten zu meistern wusste), als unermüdlichem Cicerone sowie „Agitator“ für seine Heimat, nicht zuletzt aber auch dem sommerlichen „Kaiserwetter“ ist es zu danken, dass das Mitgliedertreffen der Weber-Gesellschaft in Pokój ein voller Erfolg wurde, das vielen Mitgliedern in sehr positiver Erinnerung bleiben wird. Es bleibt zu hoffen, dass auch in den kommenden Jahren die so erfreuliche Entwicklung weitergeführt wird – jeder Einzelne hat die Chance, sich als Gast der jährlich zu Fronleichnam stattfindenden Musikfeste darüber ein Bild zu machen. Die Gemeinde Pokój und Manfred Rossa laden herzlich dazu ein!
Frank Ziegler